„Die Offenheit für die Vielfalt im Leben bewahren“ – ein Zeitzeugengespräch zum Widerstehen im Dritten Reich

  17. Februar 2017    von Dr. Wulf Wäntig

Sechs Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Tiergarten gestalteten das Zeitzeugengespräch zum Gedenken an die "Fabrikaktion" des Februars 1943 und sprachen mit Nele Hertling, der Vizepräsidentin der Akademie der Künste, über ihre Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus.

Nele Hertling im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern des Gymnasium Tiergarten
Nele Hertling im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern des Gymnasium Tiergarten

Am 27. Februar 2017 fand das alljährliche Gedenken an die so genannte „Fabrikaktion“ in der Rosenstraße statt. In dieser kurzen Seitenstraße am Alexanderplatz stand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Verwaltungsgebäude der jüdischen Gemeinde, das SS und Gestapo Anfang 1943 als Sammellager für die verbliebenen Berliner Jüdinnen und Juden nutzten, die von hier deportiert werden sollten. Viele von ihnen waren bis zu diesem Zeitpunkt verschont geblieben, weil sie mit „arischen“ Ehepartnern verheiratet waren. Jetzt wurden sie in einer Nacht- und Nebelaktion aus ihren Arbeitsstellen (daher „Fabrikaktion“) geholt und hier gefangengesetzt. Einer mutigen Gruppe ihrer Ehefrauen und -männer gelang es im Februar 1943, durch stummen Protest vor der Sammelstelle die Freilassung von etwa 2000 Festgenommenen zu erreichen. Dies gilt bis heute als Symbol für die Möglichkeit des Widerstands gegen das menschenverachtende NS-Regime und seine Politik.

Einen Teil des jährliche Gedenkens bildet jedes Mal ein Zeitzeugengespräch, das in diesem Jahr von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Tiergarten gestaltet wurde. Sechs Mitglieder des Leistungskurses Geschichte im 4. Semester befragten Nele Hertling, Vizepräsidentin der Akademie der Künste, zu ihren Erlebnissen und Erfahrungen als Kind in dieser Zeit. Ihre Großmutter war vom Judentum zum Christentum übergetreten, so dass sie selbst eigentlich aus einem protestantischen Elternhaus stammte. In der nationalsozialistischen Rassenideologie galten Mutter und Tochter dennoch als „Mischlinge“ und unterlagen der Nürnberger Rassengesetzgebung. Die abenteuerliche Geschichte ihres Untertauchens, zunächst – allein als Kind im Grundschulalter! – in Oberbayern und später zusammen mit der Mutter in Mecklenburg, wurde im Rahmen des Gesprächs sehr anschaulich. Da zeitgleich der in Berlin gebliebene Vater ein jüdisches Ehepaar aufgenommen hatte und ihm Schutz bot, so gut es ging, ist die Geschichte der Familie ein lebendiges Beispiel dafür, wieviel Not und Angst das „Dritte Reich“ in den Alltag der von ihm Verfolgten hineintrug – zugleich aber auch, mit wieviel Mut, Risiko und Einsatzbereitschaft es dennoch gelingen konnte, diesem scheinbar übermächtigen System das Überleben abzuringen. Dass dies ihr selbst und ihren Eltern gelungen ist – anders als so vielen anderen –, führt Nele Hertling darüber hinaus aber auf eine gehörige Portion Glück zurück, die dafür gesorgt habe, dass eine Reihe notwendiger Faktoren in ihrem Fall günstig zusammengespielt hätten. Von den Schülerinnen und Schülern zum Abschluss gefragt, welche Spuren die Belastungen der Kindheit in ihrem weiteren Leben hinterlassen hätten, konnte sie berichten, dass sie im Rückblick ihr kontinuierliches berufliches Engagement für die interkulturelle Begegnung – als Intendantin am Hebbeltheater, im Deutsch-Französischen Kulturrat, als Leiterin des Berliner Programms der Kulturhauptstadt Europas, an der Akademie der Künste, im Informal European Theatre Meeting und in vielen anderen Gremien und Netzwerken – auf die Beschäftigung mit dieser frühen Phase ihres Lebens zurückführt: Die Offenheit für die Vielfalt im Leben zu bewahren – das sei ihr ganz persönliches Fazit aus der Beschäftigung mit dem Erlebten.

Vielen Dank an Frau Hertling – und an die Schülerinnen und Schüler des LK Geschichte für ihr Engagement!